schmerzen, oder so ähnlich (part one)
Ein erster Textversuch - über chronische Schmerzen, Schwäche als "feminine trait" und über Frust. Viel Frust.
Ich weiß nicht, was die Schmerzen genau sind. Niemand scheint das gerade zu wissen. Ich weiß nur, dass ich letztes Jahr aufgewacht bin, und sie da waren. Als würde mein ganzer Körper mit Gewichten nach unten gezogen werden. Als würden meine Beine brennen, und gleichzeitig taub sein, und gleichzeitig oben und unten auseinandergezogen werden, wie ein endloser Muskelkater. Wenn ich laufe machen sie nicht mehr immer mit. Es ist, als müsste ich ihnen die Bewegung komplett neu beibringen, als seien ein paar Schritte die komplexeste und anstrengenste Sache, die ich je gemacht habe. Manchmal machen meine Arme nicht mehr mit. Meine Handgelenke schalten sich aus, ich muss meine Hand und den Unterarm tragen, sonst fühlt es sich so an, als würden sie gleich abfallen. Und auch hier dieses Kribbeln, dieses endlose Unwohlgefühl, das bleibt, egal was ich mache.
An den Tagen, wo alles besonders stark ist - die Schwere, die Beine, die Arme - weiß ich, dass irgendetwas nicht stimmt mit mir. An diesen Tagen mache ich mir Gedanken über Behinderung, darüber, wie ich mein restliches Leben gestalten kann/muss/soll, jetzt, wo diese Schmerzen da sind. Ich frage mich, ob ich jemals wieder auf Konzerte gehen kann, ob ich jemals arbeiten kann (später, im Herbst 2023, versuche ich es mit dem Arbeiten, Vollzeit, im Büro - es ist keine gute Idee). Ich frage mich, wie ich politisch bleiben kann, wenn Demos keine Möglichkeit sind und meine Hände zu kraftlos sind, um ein Handy zu halten oder Posts zu teilen, und mein Kopf zu durcheinander, um Texte zu schreiben.
Ich stelle mir vor, an die Küste zu ziehen - Ostsee, da ist es nicht so warm. Ich stelle mir vor, meinen Radius zu reduzieren, ein Leben zwischen Bett und Sofa und gelegentlich die siebzig Schritte zum Strand. Ich werde wütend und traurig und schäme micht dafür - wie ableistisch ist es von mir, ein eingeschränktes Leben als weniger gut, weniger spannend wahrzunehmen? Wie priviligiert und naiv, dass meine “Verluste” Festivals und Reisen, lange Partynächte und Highperformertum sind?
Ich kriege eine neue Angst, die ich noch nicht ganz einordnen kann: ich kann nicht mehr rennen. Nicht vor Polizisten, nicht vor anderen Faschos, nicht, um meinen Kopf zu beruhigen. Früher war das mein Sicherheitsgefühl, um in diesem Land klarzukommen - sogar meine Outfits waren immer so geplant, dass ich jederzeit rennen könnte.
An den Tagen, an denen es besonders schlimm ist, kann ich mich gar nicht mehr daran erinnern, jemals ohne diese Schmerzen gelebt zu haben. Aber dann kommt ein Tag, wo es besser ist, und ich bin mir sicher, ich habe mir alles nur eingebildet. An diesen Tagen, wo ich die Schmerzen immer noch spüre - weg sind sie nie - aber noch viel mobiler bin, viel mehr machen kann, wird mein Kopf laut. Wie scheinheilig, wie faul, wie dramatisch ich doch sein muss, wegen einem kleinen Schmerz nichts mehr hinzubekommen. Wie anmaßend, dass ich meinen Zustand mit echten, diagnostizierten Leuten vergleiche. Dass ich überlege, die gleichen Begriffe zu nutzen wie Menschen, die wirklich für immer eingeschränkt sind - fatigue, flare up, disability.
An diesen Tagen kompensiere ich, plane eine große Zukunft, überlege mir, wie ich vor 25 am besten nicht nur ein Buch schreibe, sondern einen krassen Job kriege, eine endlose politische Energie aufrecht erhalte, einen Literaturpreis und ein riesiges Stipendium sichere. An diesen Tagen rechne ich nach, wie viel Zeit ich seit den Schmerzen verloren habe, wie viele Dinge ich absagen musste, wie viel ich hätte machen können, wie viel Vernetzung und Diskussion ich verpasst habe.
Und dann gehe ich ins Bett, und die Schmerzen werden wieder stärker, und ich denke an gar nichts mehr, nur noch daran, eigentlich für immer schlafen zu wollen, weil ich im Schlaf keine Schmerzen habe, und nicht arbeiten muss, sondern nur träume. Und in meinen Träumen kann ich laufen, und rennen.
painfluencers
Die Mädchen und Frauen, die ich online finde, die über chronic pain und fatigue, über PCOS und Ehlers Danos sprechen, über ME/CFS und Post Covid, sind sich sehr ähnlich. Sie sind 20,24,32 Jahre alt. Sie sind blond (irgendwie sind sie alle blond) und wohnen in großen Häusern, mit ihren Partnern, mit ihren Eltern, mit ihren Hunden und Katzen. Sie haben Autos, an guten Tagen fahren sie sich selbst zu ihren Arztterminen. Sie erzählen viel. Davon, nach dem Duschen fast ohnmächtig zu werden. Davon, Gewicht zu verlieren, weil sie durch die Schmerzen keinen Hunger mehr haben. Sie erzählen von Arztbesuchen, von experimentellen Behandlungen, von Vitamininfusionen.
Ich gucke mir ihren Content sehr, sehr viel an. Ich liege im Bett, ich fahre nicht mit dem Auto zum Arzt, ich dusche nicht. Je mehr ich mich in die Painfluencer-Bubble reinarbeite, desto sicherer bin ich mir: Meine Schmerzen können nicht das sein, was sie haben. Sie haben Diagnosen, sie haben Schmerzen, sie haben Parameter für ihre Schmerzen. Meine Schmerzen können nicht echt sein. Zum Beispiel habe ich nämlich immer noch Hunger. Ich esse, viel häufiger und viel mehr als bisher. Ich verliere oft das Gefühl für Zeit und Struktur. Ich schlafe und liege und weine und esse. Und gucke den Mädchen und Frauen auf TikTok zu.
Meine Schmerzen können nicht echt sein, nicht so schlimm wie bei denen, weil ich nicht mehr ohnmächtig werde. Als ich jünger war, vielleicht zwölf oder dreizehn, war ich während eines Familienbesuchs mit meiner Mutter beim Arzt in Süddeutschland. Zu der Zeit wurde ich sehr oft ohnmächtig - in der Bahn, beim Spazieren, und vor allem in der Immigration-Schlange am Flughafen. Wenn man von Berlin nach Addis Abeba fliegt sind das ca 2000m Höhenunterschied. Am besten wäre es, nach dem landen erstmal viel Wasser zu trinken, frische Luft zu haben, den Körper sich langsam anpassen zu lassen. Aber wenn man in Addis landet muss man Schlange stehen, manchmal stundenlang. Die Toiletten, und die Läden wo man neues Wasser kaufen könnte, sind erst hinter den Schaltern. Wir waren kein UN Personal, waren keine Citizens, waren keine Amerikaner in der Diplomatenschlange, die dachten, ihnen gehört die Welt. Wir waren "all passports" und unsere Schlange war lang. Ich war jung, der Flug war lang, und als ich anfing zu weinen und zu zittern dachten meine Eltern, ich wäre einfach erschöpft. Stell dich nicht so an, wir sind gleich durch, dann fahren wir nachhause. Ich versuchte etwas zu sagen, mich zu erklären. Aber das funktionierte nicht, und dann kippte ich um. Ich wurde blass, meine Augen rollten nach hinten, und ich klappte in mir zusammen.
Damals passierte das sehr oft, und deshalb gingen wir zum Arzt, als wir zu Besuch bei meinen Großeltern waren und ich wieder ohnmächtig geworden war. Der Arzt untersuchte mich, hörte meine Geschichte an, und gab seine Einschätzung. Das ist nicht so schlimm, in ein paar Jahren regelt sich das. Das ist bei jungen Frauen so, wenn sie einen schönen Mann sehen oder sich zu sehr aufregen, dann fallen die mal um. Meine Mutter regt sich bis heute über diese Geschichte auf - alle, denen ich sie erzähle, genau so. Aber damals fühlte ich mich irgendwie bestätigt. Die Ohnmacht machte mich zu einem echten Mädchen. Mein erster femininer Trait. Nicht mehr zu laut, zu groß, zu komische Haare (“so wie ASAP Rocky, oder wie ein Brokkolikopf”), nicht mehr "naja du bist ja obviously kein Junge aber so ein richtiges Mädchen bist du ja auch nicht". In diesen kurzen Momenten war das egal. Ich war ein richtiges Mädchen, so wie Mädchen in der Geschichte seit jeher. Ich wurde ohnmächtig, brach zusammen. In diesen Momenten war ich fragil, schwach, brauchte Hilfe. Am besten wäre es gewesen, wenn mich einer der main characters meiner Lieblings-High-School-Serien beim Fallen elegant auffangen würde. Oder einer der Jungs aus den höheren Klassenstufen. So zumindest in meinem Kopf, als dieser Arzt mich quasi mit Hysterie diagnostizierte (in echt war es damals wie heute meistens so, dass ich alleine fiel, dass sich niemand umdrehte, schon gar nicht um Hilfe anzubieten).

Das war damals. Mit den Jahren hatte sich mein Kreislauf tatsächlich gebessert. Jetzt hatte ich andere Schmerzen, kompliziertere Schmerzen. Die, die nicht echt sein konnten. Jetzt war ich nicht wie die anderen Frauen und Mädchen. Ich hatte Hunger, und ich wurde nicht mehr ohnmächtig.
um zählen zu können, müsste ich die zahlen kennen
Die Frauen und Mädchen schienen nicht nur genau zu wissen, dass ihre Schmerzen echt waren, sie wussten auch immer, wie stark sie sind. Anscheinend kann man das wissen, einfach so. Beim Arzt, in der Schmerzklinik, bei dem Bewerbungsbogen für die Spezialsprechstunden muss man immer angeben, wie stark die Schmerzen sind. 1-10. Und andere Leute schienen das zu wissen. Schienen ihren Schmerz in Verhältnis setzten zu können, mit ihrem Schmerz vor sechs Stunden, mit einem schmerzfreiem Gefühl, mit schlimmeren Schmerzen.
Wenn ich mich so einer Skala widmete, verzweifelte ich komplett. Wie sollte ich denn wissen, wie stark meine Schmerzen sind? Woher wusste ich, ob ich mit meiner Zahl richtig oder falsch lag? Wenn ich jetzt sagte, es ist eine acht, weil ich nicht aufstehen kann und mich auf nichts konzentrieren kann und seit Stunden weine und mir wünsche, ich könnte meine Beine abschneiden, woher wusste ich dann, ob das die richtige Zahl ist ?
(Wenn Herzinfakte und Periodenkrämpfe auf der gleichen Skala liegen können, welche Zahl gilt dann? Auf welcher Skala liegt eine Panikattacke, oder ein gebrochenes Herz, oder ein gebrochener Arm, oder eine Geburt? Oder eine Woche, ein Monat, neun Monate, ein Leben im Krieg? Oder das Feststecken unter den Trümmern eines zerbombten Hauses, oder das Leben in einer Welt die dich nicht lebend will?)
Statt der acht schreibe ich eine sechs auf, und werde vom Programm abgelehnt. Leider nehmen wir Patienten erst ab einem Schmerzgrad von sieben oder höher auf.


